Die Foto-Serie reflektiert mein ganz persönliches Gefühl der Tradition von Teezeremonie, des in japanischer Kultur stark verwurzelten Aberglaubens, der Naturbetrachtung sowie des Miteinander der heutigen japanischen Menschen, insbesondere Frauen. Die einzelnen Gesten der Höflichkeit, der Überhöhung des Anderen und der Erniedrigung sich selbst und des Anderen zugleich. Eine zuweilen als gegenseitige Entpersonifizierung anmutende Überlebens-Choreographie einer zur Gehorsamkeit und Disziplin trainierten Gesellschaft.
Die Teezeremonie als ein stark an die Zen-Buddhistische Tradition angelehntes gesellschaftliches Ritual, welches ursprünglich mit der Kultur der japanischen Samurai verknüpt gewesen ist, war für mich in ihren romatischen und expressiven Aspekten sehr inspirierend bei der Inszenierung der Bilderserie.
Die Rollenbilder von Frauen und Männern werden in Japan intensiv ausgelebt und sind oft strengen Regeln, Hierarchien unterworfen. Das Befolgen von Regeln und Konventionen ist in Japan ein allgemein akzeptierter Zwang. Das Nicht-Befolgen wird zuweilen sehr rigoros bestraft und in der sozialen Struktur offiziell nicht geduldet.
Die in der Fotoserie abgebildeten Japanerinnen interagieren mit Tee-Kannen, welche von einer Porzellankünstlerin in Tokyo entwickelt und realisiert worden sind. Die Form und das Prinzip dieser Gefässe ist von menschlichen Gedärmen inspieriert. Gedärme widerum spielen auch in der Tradition der Samurais eine wesentliche Rolle, wenn die Samurais den ritualisierten Selbstmord "Seppuku" ausführten. Die den Japanern anerzogene Höflichkeits-Konvention verbietet es, Gefühle nach Aussen zu zeigen und gebietet es, unbedingt die Form zu wahren. Ich habe allerdings die japanischen Menschen in meinem einjährigem Japan Aufenthalt als sehr emotional, labil und sensibel und tendenziell unglücklich erlebt. Diese Ambivalenz war für mich, als Europäerin, faszinierend, überraschend und etwas erschreckend zugleich.
Die Ausstellung der Bilderserie ist so konzipiert, dass durch die jeweilige Hängung der Bilder immer eine andere Erzählfolge und somit auch ein anderer Inhalt entsteht. Die jeweiligen Bildmotive sind zuweilen ähnlich, dann aber gekontert, wodurch der Eindruck von Spiegelungen und Richtungswechsel entsteht. In der Grösse 120 x120 cm werden die Bilder als Rauminstallation präsentiert. Auch der Boden des Ausstellungsraums wird in dem Fall von mir künstlerisch verändert. Die Foto-Serie folgt einer non-linearen Erzählstruktur und der Betrachter selbst erfindet die Geschichten, welche ihm die Bilder erzählen.
Tokyo 2009
Mittelformat, Bildgrösse 60x60cm, 120x120cm
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„Tokyotea“ Jochen Meister, München 2009:
Zwei Asiatinnen, mit Kimonos bekleidet, konzentrieren sich auf eine Zeremonie, die sie am Boden kniend ausführen. Sie haben sich auf einem mit silbrigem Laub bedeckten Pfad niedergelassen, der durch ein dunkles Gehölz führt und sich in der Tiefe des Bildes verliert. Die Szene scheint in einem Park zu spielen. Bei den Frauen handelt es sich um Japanerinnen, und es fällt auf, dass die Farben und Muster ihrer Kimonos auf die Umgebung abgestimmt sind. Die rechte hält einen seltsam geformten weißen Gegenstand vor sich und gießt daraus etwas in die zur Schale geformten Hände der linken Frau. Beide senken schweigend ihren Blick. Die Konzentration auf die rätselhafte Handlung durchdringt die Inszenierung, die als Einzelbild zugleich Teil einer Serie von Fotografien unter dem Titel „Tokyotea“ ist.
Ausgangspunkt für diese Fotoserie ist die traditionelle japanische Tee-Zeremonie. Im „Buch vom Tee“ hat der Schriftsteller Kakuzo Okakura (1862 – 1913) die Verbindung von Schönheit und Strenge dieses jahrhundertealten, in der Kultur des Zen-Buddhismus wurzelnden Rituals beschrieben. Die Zeremonie spiegelt die ästhetischen, aber auch gesellschaftlichen Grundlagen und Eigenarten der alten Kultur des Inselreichs. Bianca Patricia hat während eines einjährigen Studienaufenthaltes in Tokio eigene Erfahrungen mit der japanischen Gesellschaft gesammelt. Die europäische Künstlerin erlebte eine Welt, in der nach ihren Worten eine „Überlebens-Choreografie“ allgegenwärtig ist. Sie nahm eine auf Disziplin, Höflichkeit und Gehorsam gedrillte Gesellschaft wahr, die Rituale als verbindliche Beziehungsregeln braucht. Zugleich lernte sie Japaner kennen, deren emotionales Befinden den strengen Regeln des Ausmerzens persönlicher Gefühle zu widersprechen schien, obgleich diese Regeln, die Hierarchien und die Rollenverhältnisse nie in Frage gestellt wurden. Es blieb ein faszinierendes, rätselhaftes Bild des Gastlandes und seiner Menschen, das in der Inszenierung von „Tokyotea“ seinen künstlerischen Ausdruck findet. Für die Serie, die in Tokio selbst entstand, engagierte die Künstlerin einheimische Modelle, besorgte passende Kleidung (gemäß den traditionellen jahreszeitlichen Bekleidungsvorschriften) und fand einen entsprechenden Ort, der die Naturverbundenheit der Rituale einschließt. Es ist keinesfalls die Rekonstruktion einer realen Tee-Zeremonie, sondern eine Schöpfung, die aus der Begegnung mit dem Fremden eine eigenständige Situation erschafft. Ein zentrales Element ist das Gefäß, welches von der Frau rechts gehalten wird. Es handelt sich um ein von einer japanischen Künstlerin gestaltetes Keramikobjekt. Seiner Funktion nach ist es eine Teekanne, doch die miteinander verschlungenen Röhren, die den Körper des Gefäßes bilden, erinnern an Eingeweide. Damit wird ein anderes Ritual ins Spiel gebracht, nämlich die traditionelle Form des Selbstmords, „Seppuku“ genannt, bei der der Samurai sich selbst mit dem Schwert den Bauch öffnet. Das Unerbittliche einer ritualisierten Gesellschaft wird darin besonders deutlich.
Setzt man die Fotografie in den Zusammenhang der ganzen Serie, wird sie durch andere Szenen der imaginären Tee-Zeremonie ergänzt. Es gibt jedoch keine verbindliche, lineare Erzählung, keinen Anfang und kein Ende. Die großen quadratischen Abzüge lassen immer neue Sequenzen zu. Sie kreisen um ein einziges Thema: Das emotionslose und kalte, strenge und bindende Ritual. Der Betrachter kann selbst Geschichten entwickeln und die Zeichen in ihrem Zusammenhang interpretieren. Er wird sich jedoch kaum dem zentralen Motiv entziehen, nämlich der Frage nach emotionaler Persönlichkeit, wenn diese keine Ausdrucksform bekommen kann.
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