"NUR ICH" eine Fotografische Serie zum Thema Suizid in Deutschland
Jeder Mensch ist in der Lage sein eigenes Ende zu denken, sich selbst als nicht existierend zu imaginieren. Vielleicht macht gerade das den Menschen zum Menschen und ermöglicht ihm ein Weiterleben? Das Wissen um das eigene Ende bestimmt unsere Entscheidungen, Lebensentwürfe und Wertevorstellungen.
Die Idee für die Serie “nur ich” entstand aus der Auseinandersetzung mit Bildern von Suiziden in der bildenden Kunst in den letzten 1000 Jahren. Der Selbstmord wird über Jahrhunderte sowohl in der Kunst als auch in der Literatur überhöht, verherrlicht und so gut wie nie wirklich realistisch dargestellt. Suizidanten in der Kunst sind schön, rein, stark, beneidenswert. Sie werden zur Vorbildern und der Tod wird absurderweise zu einem verklärten Daseins-Zustand. Von diesen Bildbotschaften wurden die Menschen Jahrhunderte lang geprägt und verführt. Der Tod und seine Vermarktung als Instrument der jeweiligen Macht spielte seit Jahrtausenden eine entscheidende Rolle.
Die Foto-Serie “nur ich” ist ein Versuch, sich dem Phänomen Suizid in unserer Gegenwart zu nähern. Aus der Aussicht auf ihr eigenes Leben heraus begehen Menschen Suizid. Kaum jemand in unserer Gesellschaft hat wirklich die Möglichkeit mit den ihm nahe stehenden Personen über sein Vorhaben zu sprechen oder seine Zweifel am Leben zu formulieren. Als Ausgangsmaterial für die Bilder-Serie wurden Fotos aus kriminalpolizeilichen Archiven verwendet. Das Bildmaterial wurde verfremdet, überarbeitet und erneut fotografiert. Die Bilder der Fotoserie “nur ich” reflektieren die in Deutschland häufigsten Suizid-Arten in einer ikonenhaften Weise - Orte und Gesichter sind nicht mehr erkennbar. Die Selbst-Tötungs-Art und ihre Folgen werden anonym untersucht, als Gewalttat gegen sich selbst. Keine Spur von Verklärung und Schönheit. In der Ausstellung spiegelt sich der Betrachter in den verglasten Oberflächen der Werke selbst wieder. Er wird zum Bestandteil der Bildkomposition, zum Teil der Szene. So ist der Suizidant auch niemals wirklich alleine. - Ein Mensch bringt sich immer im Kontext seines Lebens um. Jeder Mensch interagiert in irgendeiner Form mit den anderen Menschen. Und ohne es zu wissen, werden sie oder wir vielleicht zu Suizid-Komplizen, zur Kulisse für das Drama der Entscheidungsfindung; wir sind vielleicht eine Tür weiter, während sich der Andere umbringt oder Wand an Wand Monate lang als Leiche verwest. Vielleicht wird auch durch eine scheinbar belanglose Bemerkung oder Handlung der Impuls ausgelöst, welcher zum Ausführen der Suizid-Idee führt.
Pressetext zu der Ausstellung in Wuppertal 2011:
Eine fotografische Serie von Bianca Patricia zum Thema Suizid
Jeder Mensch ist dazu in der Lage sein eigenes Ende zu denken, sich selbst als nicht existent zu imaginieren. Das Wissen um den eigenen Tod bestimmt Entscheidungen, Lebensentwürfe und Wertevorstellungen. In den Medien ist der Tod allgegenwärtig. Dies treibt zwar die Einschaltquoten in die Höhe, führt jedoch nicht zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Die abstrakte und auch reale Angst vor dem Tod hält das Individuum in Abhängigkeit, macht es manipulierbar und kritiklos.
nur ich, eine bereits im Jahr 2009 entwickelte fotografische Serie der in München lebenden Künstlerin Bianca Patricia thematisiert den Suizid. Es ist der Versuch, sich diesem Phänomen in unserer Gegenwart anzunähern. Die Idee dazu entstand in der Auseinandersetzung mit der Darstellung von Suiziden in der bildenden Kunst der letzten 1000 Jahre. In der Musik, der Literatur, der darstellenden als auch bildenden Kunst wird der Selbstmord seit jeher überhöht und verherrlicht und so gut wie nie wirklich realistisch dargestellt. Suizidanten werden zu heldenhaften Vorbildern, der Tod wird zu einem verklärten Daseins-Zustand stilisiert.
Ausgangsmaterial für die Bilderserie nur ich von Bianca Patricia sind Fotografien von Suizidfällen aus den Archiven der Polizei. Diese dokumentieren die sterblichen Überreste des Leichnams am Auffindeort. Durch Verfremdung, Überarbeitung und erneutes Fotografieren des dokumentarischen Bildmaterials entindividualisiert Bianca Patricia die Fotos. Gesichter und Auffindeumgebung werden unkenntlich gemacht und werden zu Projektionsflächen. Ungeschönt und real zeigen die Fotos die häufigsten Arten des Selbstmordes - Bildbotschaften, die den Suizid entmythologisieren und darüber hinaus gesellschaftlich relevante Fragen aufwerfen.
_________________________________________
Prof. Dr. Oliver Zybok „Das erschöpfte Selbst“
Einführung in die Ausstellung „Nur ich“
„Jeder Mensch ist in der Lage sein eigenes Ende zu denken, sich selbst als nicht existierend zu imaginieren,“ schreibt die Künstlerin Bianca Patricia. „Vielleicht macht gerade das den Menschen zum Menschen und ermöglicht ihm ein Weiterleben? Das Wissen um das eigene Ende bestimmt die Entscheidungen,
Lebensentwürfe und Wertevorstellungen.“
Die Idee für die fotografische Serie „nur ich“ entstand aus der Auseinandersetzung mit Bildern von Suiziden in der Bildenden Kunst in den letzten 1000 Jahren. Die künstlerischen Darstellungen zeigen fast immer erotische und begehrliche Helden und Heldinnen, die meist für höhere Ideale wie Keuschheit, Ehre, Stolz, sich in den „Tod begeben”. Die Suizide von Narziss und Lucretia in ihren vielfältigen Darstellungen mögen als motivische Beispiele an dieser Stelle ausreichen. Der Suizid wird über Jahrhunderte sowohl in der Kunst als auch in der Literatur überhöht, verherrlicht und so gut wie nie wirklich realistisch dargestellt. „Suizidanten in der Kunst sind schön, rein, stark, beneidenswert. Sie werden zu Vorbildern und der Tod wird absurder Weise zu einem verklärten Daseins-Zustand. Von diesen Bildbotschaften wurden die Menschen Jahrhunderte lang geprägt und verführt. Der Tod und seine Vermarktung als Instrument der jeweiligen Macht spielte eine entscheidende Rolle“ (soweit Bianca Patricia).
Nach zahlreichen Gesprächen mit Kriminalbeamten und Psychologen recherchierte die Künstlerin in den Jahren von 2007 bis 2008 in zahlreichen Polizeiarchiven nach Vorlagen für ihre Fotografie-Serie „nur ich“. Sie suchte nach Aufnahmen, die den Suizidenten nach dem Vollzug zeigen. Hierbei handelte es sich um digitales farbfotografisches Material, das in seiner Ablichtung nur den Zweck der polizeilichen Dokumentation zu erfüllen hat. Die ausgewählten Vorlagen bearbeitete Bianca Patricia zunächst, um die Aufnahmen dann zu vergrößern. Durch die Retusche wurde die Physiognomie des Gesichtes unkenntlich
gemacht, ebenso eine genaue räumliche Erfassung der Situation. Lediglich minimale Details lassen einen Raum oder die gewählte Todesart erahnen. Es geht also nicht darum, die Bilder zu decodieren. Bevor die motivisch reduzierten Aufnahmen abschließend abfotografiert wurden, nahm die Künstlerin ihnen ihre ursprüngliche Farbigkeit. Dadurch wird die Person und ihre Situation weiter anonymisiert und in einen allgemeineren Kontext gestellt, der den Betrachter zu einem teilhabenden Subjekt werden lässt. Er wird gezwungenen über das Vorgefundene zu reflektieren. Die Proportionen der dargestellten Körper entspre-
chen denen der Betrachter. Das glänzende Fotopapier und das Glas des Rahmens, in dem der Betrachter sich spiegeln kann, verstärken diesen Aspekt. Er wird Bestandteil der Situation. Die Foto-Serie „nur ich“ ist ein Versuch, sich dem Phänomen Suizid in unserer Gegenwart zu nähern.
Wie die medienwirksame Auseinandersetzung mit dem Freitod des Sportlers Robert Enke Ende 2009 zeigte, herrscht eine allgemeine Abneigung, sich dem Thema „Suizid“ anzunähern. Ein Grund liegt in der Tabuisierung des Todes insgesamt. Biologische Spekulationen lehren, worin die Absurdität des immer wieder zitierten Arguments gegen die Todesfurcht besteht, das Epikur in seinem Brief an Menoikëus gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. formulierte. Die verführerische Evidenz dieses Arguments – solange ich selbst existiere, sei der Tod noch nicht eingetreten, und sobald der Tod triumphiert habe, sei ich längst verschwunden: wo also ich sei, wirke kein Tod, und wo der Tod hinkomme, sei ich nicht mehr da, um ihn noch zu spüren – verdankt sich allein der Fiktion, der Tod ereigne sich in einem einzigen Augenblick: Als Überschreitung einer dimensionslosen Grenze, die gleichsam mit Teilungsmethoden ermittelt und negiert werden kann.
Nicht umsonst betonte Epikur: „Der Tod betrifft uns nicht. Denn das Aufgelöste, der tote Körper in Verwesung, ist ohne Empfindung, und das Empfindungslose betrifft uns nicht.“ Gegen die Logik dieser Argumentation wendet sich indes alle Erfahrung, die den Tod als Prozess anzusehen gelernt hat, die also nicht nur Leben und Tod, sondern auch den Tod im Leben und das Leben im Tod wahrzunehmen vermag. In seiner Schrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels schrieb der Philosoph Walter Benjamin: „Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben. Nicht erst im Verlust von Gliedmaßen, nicht erst in den Veränderungen des alternden Körpers - in allen Prozessen der Ausscheidung und der Reinigung fällt Leichenhaftes Stück für Stück vom Körper ab. Und kein Zufall, dass gerade Nägel und Haare, die vom Lebenden weggeschnitten werden wie Totes, an der Leiche nachwachsen.“
Vielleicht wurde Epikurs Argument gegen die Todesfurcht auch darum so gerne tradiert, weil der Rekurs auf den mathematisch unerreichbaren Nullpunkt des Umschlags von Leben in Tod die in Benjamins Abhandlung benannten Prozesse
des Sterbens (des Todes im Leben) und des Verwesens (des Lebens im Tode) ausblendet und tabuisiert zugunsten der machtvollen Abstraktion einer Scheidelinie zwischen dem, was ist und dem, was nicht ist. Die Abstraktion ist willkommen: Denn alles, was als schrecklich und erschütternd am Sterben wahrgenommen und erlebt werden kann, ereignet sich in den Zeiten davor und danach. Denn die Qualen und Schmerzen der Sterbenden, ihr Koma und ihr Todeskampf, entsetzen die Hinterbliebenen beinahe ebenso sehr wie die Prozesse der Erstarrung, der Verfärbung, des organischen Zerfalls. Anders gesagt: die Anfangs- und Endzustände dieser Prozesse bilden gar keinen Anlass zur Todesfurcht. Ein Sterbender, der bei vollem Bewusstsein von seinen Lieben Abschied nimmt, wirkt wenig entsetzlich. Es ist also die Vorstellung von Leid und Qual, die uns ängstlich stimmt. Um diese Angst zu relativieren versuchen wir stets den Tod zu profanisieren. Dies geschieht im Alltag und in den Medien, indem wir unter anderem Symbole, die mit dem Tod in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel der Totenkopf in Modeaccessoires, instrumentalisieren. Gleichzeitig entfremden wir uns vom Tod zunehmend im abendlichen TV- Programm, er verkommt hier zum Unterhaltungsfaktor. Denn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod hemmt den Konsum -- die weitgehend abstrakte Angst vor dem Tod treibt den Konsum jedoch an und erhöht die Einschaltquoten.
Mit ihrer fotografischen Serie „nur ich“ wirkt Bianca Patricia diesem Prozess entgegen. Der Suizid als eine Todesart wird hier allgemein als subjektives Schicksal thematisiert. Durch ihre entpersonalisierte Darstellung unterliegen die gezeigten Körper einer Verallgemeinerung. Der Betrachter wird gezwungen zu reflektieren, er setzt sich einem unangenehmen Moment aus. Und bestenfalls spiegelt sich in dieser Situation das wider, was in den alttestamentarischen Offenbarungen in paradoxer Art und Weise geschrieben steht: „Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen. Sie werden ihn nicht finden. Sie werden begehren zu sterben, doch der Tod wird vor ihnen fliehen.“
Oliver Zybok, im Januar 2011
|
"JUST ME" A photographic series by Bianca Patricia on the topic of suicide
We are all capable of thinking about our own passing, of imagining ourselves as non-existent. Knowing about one’s own death shapes one’s decisions, life plans and values. In the media, death is omnipresent. This may drive up viewer ratings, but it doesn’t necessarily make us consciously address the idea of our own mortality. The abstract but real fear of death is what keeps individuals dependent, what allows them to be manipulated and uncritical. nur ich (“just me”), a series of photographs created by Munich-based photographer Bianca Patricia in 2009, addresses the issue of suicide. The show attempts to come to a better understanding of this phenomenon in our lives today. The idea came from the way suicide has been represented in the fine arts over the last 1000 years. In music, literature, performing and visual art, suicide has long been elevated and glorified, and is hardly ever presented in a realistic way. People who commit suicide become heroic role models, and death is stylized as an enlightened state of being. The inspiration for Bianca Patricia’s photographic series nur ich came from photographs of suicides in police archives, documenting the mortal remains of the body in the place where it was found. By creating distance, reworking and re-photographing the documentary materials, Bianca Patricia de-individualizes the photos. Faces and surroundings are rendered unrecognizable, and become surfaces for projections. Unadorned and real, the photos depict the most common types of suicide – photographic messages that de-mythologize suicide while raising socially relevant questions. |